Die letzten Reste eines der bestbehütetsten Geheimnisse des NS-Regimes im Harz
(hoga-presse) Die Ansiedlung des Schickert-Werkes (Otto Schickert & Co. KG) am nördlichen Ortsausgang von Bad Lauterberg im Odertal bestimmte während der NS-Zeit die Wirtschaftsstruktur der Stadt Bad Lauterberg. Das Unternehmen stellte von 1941 bis 1945 Wasserstoffperoxyd (H2O2, Tarnname T-Stoff) als Energiequelle für Raketentriebwerke, U-Boot-Turbinen, Torpedoaggregate und als Starthilfe für Flugzeuge in großen Mengen her. Schon im Ersten Weltkrieges bestand Interesse an einer militärischen Nutzung von Wasserstoffperoxid, doch fehlten noch die Mittel einer großtechnischen Herstellung.
Erst in den folgenden Jahren schufen die Elektrochemischen Werke München (EWM) die Voraussetzungen dafür. Der Kieler Chemiker und Ingenieur Dr. Helmut Walter erforschte und erprobte für das Oberkommando der Marine nach neuen Treibstoffen für moderne Triebwerke. Seine Ergebnisse lösten einen wahren Entwicklungsschub aus.
Der Bau der Schickert-Werke in Bad Lauterberg
Im Sommer des Jahres 1938 fiel die Entscheidung für den Bau des Schickert-Werkes im Odertal in Bad Lauterberg. Ausschlaggebend für die Ansiedlung in der Harzstadt war die Nähe zu der 1933 errichteten Odertalsperre. Diese hielt hinreichend Wasser zur Kühlung der Elektrolyse und der Erzeugung von Wasserdampf bereit. Im August 1938 beauftragten die Elektrochemischen Werke München (EWM) den Architekten Proebst aus Ingolstadt mit der Bauplanung der „Anlage Z“ in Bad Lauterberg, die aus fünf identischen, voneinander aber völlig unabhängig arbeitenden Produktionseinheiten bestehen sollte.
Geplant war, Wasserstoffperoxid in einer Konzentration von 80 bis 85 % nach dem Pietzsch-Adolph-Verfahren der Elektrochemischen Werke München herzustellen. Die geplante Produktionskapazität der Gesamtanlage sollte 1.200 Monatstonnen 80%iges Wasserstoffperoxid betragen.
Am 8. Dezember 1938 wies der Reichsminister der Luftfahrt (RLM) die Elektrochemischen Werke an, der Ausbau der Fabrik in Lauterberg habe sofort in vollem Umfang zu erfolgen, und ebenfalls sei mit der Projektierung eines zweiten Werkes in Rhumspringe mit fünf Einheiten umgehen zu beginnen. Die rechtlichen Grundlagen schufen die Beteiligten dagegen erst knapp ein Jahr später mit der Unterzeichnung eines „Aufbauvertrages“ am 26. Oktober 1939. Darin verpflichtete sich das Reich, im Odertal bei Bad Lauterberg auf eigene Kosten ein Werk „zur Erzeugung von chemischen Stoffen für den Wehrmachtsbedarf“ zu errichten.
Tarngesellschaft: Otto Schickert & Co. KG
Aus Geheimhaltungs- und Verschleierungsgründen wurde die Fabrik nach dem sogenannten „Montan-Prinzip“ errichtet. In den Jahren 1938 und 1939 erteilte das Luftfahrtministerium (RLM) die Aufträge zum Bau und den Betrieb der Anlage in Bad Lauterberg. Finanziert wurde die Fabrik mit staatlichen Mitteln. Eigentümerin war die Luftfahrtanlagen GmbH mit Sitz in Berlin-Schöneberg (LAG). Nach Fertigstellung übergab sie die Produktionsstätte der Elektrochemischen Werke München (EWM) in Berlin. Dies wiederum verpachtete die Fabrik an die Otto Schickert & Co. KG, eine 100%ige Tochtergesellschaft. Den streng geheim gehaltenen Pachtvertrag unterzeichneten die Beteiligten 26.10.1939.
70 Millionen RM für staatseigene Fabrik investiert
Im Odertal entstand eine gigantische Produktionsanlage, die durch die Größe und Architektur der Gebäude einzigartig in der Region blieb. Im Frühjahr 1941 ging die erste Halle zur Erzeugung von 35%igem Wasserstoffperoxyd samt der zentralen Anlage zur Hochkonzentration der Chemikalie auf 80 bis 85 % in Betrieb. Die zweite Halle zur Produktion von 35%igem Wasserstoffperoxyd lief im Sommer 1941 an. Der Bau von Halle 3 war im Frühjahr 1942 und von Halle 4 im November 1942 abgeschlossen. Der Aufbau des Chemiewerkes war mit der Inbetriebnahme von Halle 5 im Juni 1944 vollendet.
Die komplett vom Reich übernommenen Kosten für den Bau der Fabrik in Bad Lauterberg beliefen sich auf 70 Millionen RM. Nach Abschluss der Bauarbeiten standen fünf autarke Fabrikationshallen zur Verfügung. Der in Bad Lauterberg produzierte “T-Stoff” diente vorwiegend als Treibstoff für Düsen- und Raketenflugzeuge sowie Walter-U-Boote. Zur Zwischenlagerung unterhielt Schickert in der von der Wifo im Kohnstein bei Niedersachswerfen errichteten Stollenanlage ein Depot. In der dortigen Kammer 27 standen 21 Lagertanks zur Verfügung, die im Herbst 1943 wegen der Verlagerung der V2-Raketenproduktion in den Kohnstein bei Nordhausen zu räumen war.
Schickert Bad Lauterberg mit mehr als 1.200 Arbeitskräften
Das Schickert-Werk Bad Lauterberg beschäftigte im Januar 1943 insgesamt 1.200 Personen. Diese Zahl blieb bis Kriegsende nahezu konstant. Ende 1944 zählte der Betrieb 1.257 Mitarbeiter, darunter zahlreiche ausländische Arbeitskräfte. Darunter 379 Fremdarbeiter (zumeist Italiener) und 131 Ostarbeiter/innen. Sie waren im Gemeinschaftslager Odertal, das aus neun Wohn-, einer Wirtschafts- und Küchen- sowie einer Wasch- und Toilettenbaracke bestand, untergebracht. Gearbeitet wurde im 3-Schicht-Betrieb.
Das Schickert-Werk Bad Lauterberg nach 1945
Nach Kriegsende nahmen die Alliierten das Werksgelände vorläufig in Besitz. Im Anschluss an die Demontage der Fabrik nutzten kleinere und mittlere Gewerbetrieb die ehemaligen Werkhallen des ehemaligen Schickert-Werkes. Zwischen 1979 und 1984 ließ die Eigentümerin, die Industrie-Verwaltungsgesellschaft (IVG), die Hallen 1, 2 und 3 sowie die Verfüllstation und zahlreiche kleinere Gebäude abbrechen. Mit Ausnahme des ehemaligen Verwaltungsgebäudes, das heute dem stetigen Verfall ausgesetzt ist, veräußerte sie 1990 das gesamte Grundstück mit den ehemaligen Produktions-Gebäuden des Schickert-Werkes zum symbolischen Kaufpreis von einer Deutschen Mark an die Stadt Bad Lauterberg. Der Übergang des verkauften Grundbesitzes erfolgte am 01.07.1990.
Zwischen 1990 und 1992 ließ die Stadt Bad Lauterberg die noch verbliebenen Gebäude dem Erdboden gleichmachen. Mit Ausnahme des Schickert-Verwaltungsgebäudes blieb von dem Werk nur wenig vorhanden. Bis heute wird vor Ort mit keiner Zeile über die frühere Rolle dieses Standorts informiert. Das Verwaltungsgebäude, das direkt an der Hauptstraße liegt, zeugt noch von der damaligen Architektur. 2016 gab es Planungen, auf dem 110.000 Quadratmeter großen Schickert-Gelände einen Ferienpark mit 117 Ferienhäuser und insgesamt 1.032 Betten zu errichten, doch die Planungen zerschlugen sich. Aktuell liegt das Gelände weiterhin brach. Die einzigen noch vorhandenen Gebäudes des Schickert-Werkes, der Verwaltungstrakt und das Wachhäuschen, verfallen zusehends.
Quelle: Frank Baranowski
Bilder: Historische Aufnahmen Foto Lindenberg/ Jürgen Müller; aktuelle Aufnahmen des Schickert-Geländes (2021) Frank Baranowski